Die Methode der Selbsterinnerung nach Georges I. Gurdjieff

Eines der größten Hindernisse für die Erfahrung von innerem Frieden besteht in unserer Unfähigkeit, aus dem endlosen Strom der Gedanken hinauszutreten, der permanent durch unsere Köpfe rauscht.

Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn sich ein Großteil der Gedanken um belastende Themen dreht, wie es bei den Scharen von Menschen der Fall ist, die unter Sorgen, Ängsten oder Schlafstörungen leiden. Sie alle können die negativen Gedankenschleifen in ihren Köpfen weder in positive verwandeln noch abschütteln. Sie sind ihnen somit hilflos ausgeliefert.

Da eine derartige Situation auf Dauer unerträglich erscheint, sind Betroffene natürlich besonders dankbar für alles, was ihnen dabei hilft, ihrem „Kopfkino“ zu entkommen. Sie sehnen sich deshalb nach Ablenkungen und Betäubungsmitteln, was leider viel zu häufig zu süchtigem Verhalten führt.

Wenn wir aber erst einmal erkannt haben, dass sich einer der größten Feinde unseres Friedens direkt im eigenen Kopf befindet, dann stellt sich die Frage, wie wir ihm auf gesündeste und effektivste Art begegnen können.

Hierfür gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Wir können die Qualität unseres Denkens beeinflussen und wir können lernen, mehr Abstand von unseren Gedanken zu erlangen.

Für letzteres sind die Methoden der energetischen Psychologie wie PEAT natürlich eine große Hilfe. Allerdings werden diese von den meisten Anwendern nur punktuell zur Beseitigung unerwünschter innerer Zustände genutzt. Sie nehmen sich also extra etwas Zeit dafür, setzen sich hin und führen einen bestimmten Prozess auf ein bestimmtes Thema durch.

Wer darüber hinaus jedoch auch seinen Alltag als jederzeit verfügbare Gelegenheit nutzen möchte, um die eigene Entwicklung und Befreiung von inneren Begrenzungen voranzutreiben, für den bietet die Methode der „Selbsterinnerung“ nach Georges I. Gurdjieff ein perfektes Übungsfeld.

Um die Methode der „Selbsterinnerung“ zu verstehen, muss man allerdings die Idee akzeptieren, dass wir mehr sind als das, was wir über uns selbst zu wissen glauben.

Normalerweise beantworten wir die Frage „Wer bist du?“ nämlich mit Aussagen über unsere Körper, Geschlecht, Alter, Interessen, Stärken, Schwächen, Beruf, Besitz, Status, Staatszugehörigkeit etc. Dies sind alles Aspekte unserer Persönlichkeit, die wir für unser „Ich“ halten.

Unter alledem sind wir jedoch auch gleichzeitig ein Bewusstsein, das alle genannten Persönlichkeitsanteile überhaupt erst wissen bzw. wahrnehmen kann.

Dieses Bewusstsein ist dabei das Subjekt der Wahrnehmung und die Persönlichkeitsanteile sind die Objekte im Bewusstsein.

Der russische Mystiker Georges I. Gurdjieff (*1866-1949) wies nun darauf hin, dass das Denken ein mechanischer Vorgang sei, der ohne oder mit sehr wenig Bewusstsein arbeiten könne. Demgegenüber könne Bewusstsein auch ohne einen wahrnehmbaren Gedanken existieren. (Ouspensky,“ Der vierte Weg“, S.130)

Gurdjieff behauptete nun, dass fast alle Menschen von ihrem mechanischen Denken hypnotisiert wären und sich deshalb in einer Art Halbschlaf befänden. Ihre Identifikation mit dem automatischen Denken führe dazu, dass sie sich in diesem verlieren und nicht erkennen können, dass sie in Wirklichkeit reines Bewusstsein sind.

Die Situation lässt sich dabei mit einem bewölkten Himmel vergleichen. In dieser Analogie entsprechen die Wolken den Gedanken und die unendliche Weite des Himmels dem Bewusstsein, in dem diese Gedanken auftauchen. Ist der Himmel zwanghaft auf das Betrachten der Wolken fixiert, kann er seine eigene Unendlichkeit nicht mehr erkennen und leidet möglicherweise unter der Beschränkung seiner Wahrnehmung. Würde er sich jedoch  selbst erkennen, wüsste er, dass ihm die Wolken nichts anhaben können und dass er selbst unendlich viel größer ist als diese, – ungeteilt, ewig und unbegrenzt.

Wem es nun gelingt, den mechanischen Vorgang des Denkens als solchen zu begreifen und sich statt mit den Gedanken mit dem Bewusstsein zu identifizieren, der erwacht laut Gurdjieff zu einem höheren Bewusstseinszustand und befreit sich gleichzeitig vom zwanghaften Denken.

Um dies zu erreichen bedarf es nach Gurdjieff jedoch einer kraftvollen Willensentscheidung und beharrlicher Übung.

Er sagte dazu: „Wenn wir Willen haben, wenn wir frei sein möchten, anstatt Marionetten zu sein, wenn wir erwachen wollen, müssen wir Bewusstsein entwickeln.“ (Ouspensky, „Der vierte Weg“, S. 131)

Für das Erwachen aus der Identifikation mit dem Denken hinein ins Bewusstsein, sei die „Selbsterinnerung“ die Methode der Wahl.

Durch Selbstanalyse sollten wir hierfür zuerst einmal erkennen, dass das, was wir wirklich sind, nicht das ist, was wir über uns denken. Wir sollten erkennen, dass wir das konstante Element aller Erfahrung (=Bewusstsein) sind, bzw. das, was alle Erfahrung kennt. Selbsterinnerung ist dann einfach das Erkennen davon.

In der praktischen Umsetzung solle man sich also immer wieder fragen: “Bin ich?”, um die Antwort darauf als einen Moment von Bewusstheit zu empfinden: “Ja, ich bin” (aber nicht als rationale Antwort sondern als wesensmäßige Empfindung).

Beim Prozess der Selbsterinnerung sind wir dazu angehalten, unsere Aufmerksamkeit aufzuteilen.

Während der alltäglichen Erfahrung funktioniert unsere Aufmerksamkeit nämlich normalerweise wie ein Vektor, der von uns ausgeht und auf irgendwelche Objekte oder Phänomene gerichtet ist.

Dies kann durch einen Pfeil mit einer von uns weg gerichteten Pfeilspitze dargestellt werden:

Ich ⟶  das beobachtete Phänomen.

Wenn wir aber gleichzeitig versuchen, uns an uns selbst zu erinnern, richtet sich unsere Aufmerksamkeit sowohl auf das beobachtete Objekt als auch auf uns selbst. Eine zweite Pfeilspitze erscheint im Vektor:

Ich ⟷ das beobachtete Phänomen.

Wenn wir uns also in dem Moment, in der wir etwas beobachten, unserer selbst bewusst werden, wird die Richtung unserer Aufmerksamkeit zwei Pfeilen ähneln, von denen der eine die Aufmerksamkeit zeigt, die auf den Gegenstand der Beobachtung gerichtet ist, und der andere die Aufmerksamkeit, die auf uns selbst gerichtet ist.

Die Kunst liegt dann darin, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, ohne die Aufmerksamkeit, die auf etwas anderes gerichtet ist, dadurch zu schwächen oder auszulöschen.

 

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Wenn du zu den Menschen gehören solltest, die mehr in der Gegenwart leben wollen, die spürbewusster werden wollen, die sich von ihren Automatismen befreien und sich lebendiger fühlen wollen, dann könnte dir die Methode der „Selbsterinnerung“ sehr gefallen und gute Dienste leisten.

Laut Gurdjieff führt sie zur Befreiung von begrenzenden Identifikationen und zu einem sich immer weiter vertiefenden spirituellen Erwachen.

Wenn du dich tiefer mit diesem Thema beschäftigen möchtest, empfehle ich dir meine Bücher „Übers Glück“ und „Jenseits der Polaritäten“, sowie folgende weiterführende Artikel:

Die erweiterte “Wer bin ich – Meditation”

Der gnostische Intensiv-Prozess und die direkte Erfahrung-der-wahrheit/

Das Problem mit unserer Identitäten (Teil 1)

Das Problem mit unserer Identitäten (Teil 2)

 

 

Quelle: P.D. Ouspensky: „Der vierte Weg“.