Das Problem mit unseren Identitäten (Teil 1)

Eines der erstaunlichsten Phänomene des Menschseins besteht darin, dass wir zwar viele verschiedene Persönlichkeitsanteile besitzen, aber dennoch ein durchgängiges und einheitliches Ich-Erleben haben. In der Regel sind wir jedoch alles andere als einheitlich und stattdessen zutiefst widersprüchlich und voller innerer Widersprüche.

So schrieb der russische Mystiker P. D. Ouspensky z.B. schon vor 100 Jahren:

“Vor allem soll der Mensch wissen, dass er nicht eine Einheit ist – er ist eine Vielheit … Dadurch, dass er stets die gleichen physischen Empfindungen hat, sich immer beim gleichen Namen rufen hört und sich in Gewohnheiten und Neigungen wiederfindet, die er immer gekannt hat, bildet er sich ein, stets derselbe zu sein. In Wirklichkeit ist keine Einheit im Menschen, es gibt weder ein alleiniges Befehlszentrum noch ein bleibendes „Ich“ oder Ego. … Alle Gedanken, jedes Gefühl, jede Empfindung, jeder Wunsch, jedes „ich mag“ oder „ich mag nicht“ ist ein „Ich“. Diese „Ichs“ sind untereinander aber nicht verbunden noch irgendwie koordiniert.“

Da wir uns mit diesen verschiedenen „Ichs“ jedoch identifizieren, nehmen wir sie nicht bewusst wahr. Genauso wenig nehmen wir wahr, wenn wir sie wechseln.

So sind wir ihnen in besonderem Maße ausgeliefert. Dabei sie haben einen maßgeblichen Einfluss auf unser Denken, Fühlen, Verhalten, unsere Befindlichkeit und unseren Erfolg  im Leben.

Was aber sind diese Persönlichkeitsanteile oder Identitäten?  Nun, zum einen sind sie keine Bewusstseinsinhalte. Stattdessen sind sie Gedanken und Emotionen bzw. Inhalte, mit denen wir uns identifizieren.

Was aber ist der Unterschied zwischen beiden? Wenn ich sage „ich fühle Eifersucht“, dann deutet die Art und Weise, wie ich das sage, darauf hin, dass es sich dabei um eine Emotion handelt, einen Bewusstseinsinhalt. „Ich fühle Eifersucht“. Ich nehme die Eifersucht dabei als zeitlich begrenztes Phänomen wahr. Sie taucht auf und verschwindet dann wieder.

Wenn ich aber sage „Ich bin ein eifersüchtiger Mensch“, dann identifiziere ich mich mit der Eifersucht und erlebe das Eifersüchtig Sein als Teil meiner Persönlichkeit. Dies ist der Punkt, an dem das Leiden beginnt.

Negative Gedanken und Emotionen sind nämlich kein wirkliches Problem, da wir alle grundsätzlich  die Fähigkeit besitzen, mit ihnen umzugehen. Unsere Probleme beginnen erst, wenn wir damit beginnen, uns mit diesen Gedanken und Emotionen zu identifizieren. Erst hier beginnt das Leiden. Wenn ich nämlich sage, dass ich eine eifersüchtige Person bin, dann nehme ich dies als mein wahres Selbst wahr. So bin ich halt, und zwar permanent.

Es gibt also einen gewaltigen Unterschied zwischen emotionalen und mentalen Inhalten einerseits und den Identitäten andererseits. Inhalte sind Emotionen und Gedanken, die ich zwar wahrnehme, die aber nicht ich sind. Identitäten sind aber etwas, das ich als mich selbst wahrnehme.

Identitäten könnten z.B. sein, eine verschlossene Person, eine gesprächige Person, eine sportliche Person, eine erfolgreiche Person, eine grantige Person, eine glückliche Person und so weiter.

Nun ist es so, dass wir viele Identitäten besitzen, also viele Gedanken und Emotionen, mit denen wir uns identifizieren. Interessant ist dabei die Struktur dieser Identitäten. Jede Identität besteht nämlich aus einem Standpunkt und einem Ziel, das man von diesem Standpunkt aus erreichen möchte. So z.B. die Identität einer kindlichen Person mit dem Ziel, Verantwortung zu vermeiden. Oder die einer verschlossenen Person mit dem Ziel, in Beziehungen zu vermeiden verletzt zu werden.

Identitäten sind für uns von besonderer Bedeutung. Und zwar sowohl im Umgang mit emotionalen Problemen als auch im Hinblick auf unsere spirituelle Entwicklung. Unsere emotionalen Probleme werden nämlich durch unsere Identitäten geschaffen und aufrechterhalten. Spirituelle Entwicklung wiederum ist nichts anderes als De-Identifizierung. Spirituelle Entwicklung hat nichts mit gesunder Ernährung, Hellsehen, Astrologie, positivem Denken oder dem Channeln höherer Wesen zu tun. Spirituelle Entwicklung ist nichts anderes als die De-Identifizierung von Inhalten, die nicht unser wahres Selbst sind. Wenn wir uns von unserem falschen Selbst de-identifizieren, kommt unser wahres Selbst Stück für Stück zum Vorschein.

Da wir uns unserer Identitäten bzw. unserer Identifizierungen nicht bewusst sind, geht es bei der Anwendung psycho-energetischer Methoden darum,  dass wir uns bewusst machen, was uns bisher noch nicht bewusst ist.

Was bedeutet das? Wenn wir im Alltag unangenehme Emotionen erleben, versuchen wir in der Regel, uns davon abzulenken, indem wir uns mit irgendetwas beschäftigen.

Wenn wir psycho-energetische Methoden wie das Integra Protokoll, Excalibur, EFT, PEP oder die verschiedenen Varianten des Releasing anwenden, machen wir jedoch genau das Gegenteil. Wir aktivieren das Problem, richten dann unsere Aufmerksamkeit darauf, fühlen es und verbalisieren es schließlich. „Verbalisieren“ bedeutet dabei, die richtigen Worte für die belastenden Gedanken und Emotion zu finden. Zuvor war es ein etwas, das ich fühlte, nach der Verbalisierung weiß ich genau, was es ist. Der Akt der Verbalisierung macht das Unbewusste bewusst.

Nun ist es so, dass unsere Probleme aus verschiedenen Schichten bestehen, ähnlich wie Zwiebeln, die ebenfalls aus  vielen Schalen bestehen. Beim Bearbeiten unserer Probleme genügt es folglich nicht, nur die äußerste Schicht zu beseitigen. Wir müssen uns vielmehr alle Schichten des Problems bewusst machen, um es wirklich beseitigen zu können.

Identitäten sind dabei nichts Schlechtes. Wir brauchen sie, um unseren Alltag bewältigen zu können. Wir haben die Fähigkeit, ständig in irgendwelche Identitäten zu schlüpfen und aus ihnen wieder heraustreten zu können. Dies tun wir den ganzen Tag über, ohne dass wir es bemerken.

Nehmen wir das Beispiel eines Arztes. Ein Arzt muss, um seinen Job richtig ausführen zu können, die Fähigkeit haben, seine Arzt-Identität anzunehmen. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, hat er ein Problem. Wenn er nach getaner Arbeit aber nachhause will und in sein Auto steigt, um heim zu fahren, muss er seine Autofahrer Identität annehmen, da er ohne sie nicht Auto fahren kann.

Identitäten ermöglichen es uns also überhaupt erst, unsere Alltagsziele zu erreichen und unsere Rollen auszufüllen. Kommt der Arzt dann nachhause und sieht seine Frau, nimmt er die Identität des Ehemanns ein. Bei der Begrüßung seiner Kinder wiederum schlüpft er in die Rolle bzw. Identität des Vaters. Und so weiter. So funktionieren wir Tag ein Tag aus. Die Identitäten selbst sind also kein Problem.

Sie werden jedoch zum Problem, wenn wir entweder keine für die jeweilige Anforderung geeignete Identität zur Verfügung haben. Oder aber, wenn wir in einer bestimmten Identität feststecken.

So führen ungeeignete Identitäten generell zu schlechten Ergebnissen, während geeignete Identitäten automatisch Erfolg nach sich ziehen. Wenn wir in einer bestimmten Identität feststecken, scheitern wir folglich in allen Bereichen, für die diese nicht geeignet ist.

Folglich geht es uns auch insbesondere dann gut, wenn wir uns aus feststeckenden Identitäten befreien können und wissen, wie wir geeignete Identitäten erwerben können, um die Aufgaben des Lebens zu meistern.

Genau dies ist mit den Methoden der Psychointegration möglich.

 

Mehr über Identitäten findest du in meinem Buch „Übers Glück“, in Vladimirs Buch „Integra Protokoll“ und in Zivorads Buch „PEAT-neue Wege“.

 

Quelle: P. D. Ouspensky: “Der vierte Weg.”