Seelisch eigenständig trotz enger Beziehung (Teil 2)

Im letzten Artikel ging es darum, dass es vielen Menschen schwer fällt, sich in ihren Paarbeziehungen gleichzeitig eng mit ihrem Partner verbunden zu fühlen und trotzdem seelisch eigenständig zu bleiben. Diesem Problem liegt häufig ein instabilesSelbstempfinden zugrunde, das sie dann vom Partner gestärkt haben möchten. Typischerweise kommt es dann zu dem, was in der Alltagspsychologie als „Nähe-Distanz-Problem“ bezeichnet wird.

In der Sprache der Polaritätenintegration würden wir sagen, dass diese Menschen Gegensatzpaare wie „Ich versus Du“, „Nähe versus Distanz“ oder „Liebe versus Freiheit“ noch nicht integriert haben und aufgrund innerer Konflikte selbstunsicher sind.

Typische Symptome dieser mangelnden Integration sind dann beim liebesbedürftigeren Partner z.B. folgende:

-Sie können innerhalb der Beziehung nicht „Nein“ sagen.

-Sie halten ständig Ausschau bzw. sehnen sich nach positiven Rückmeldungen durch den Partner und sind gekränkt und verzweifelt, wenn diese ausbleiben.

-Sie versuchen die Bedürfnisse ihres Partners zu erraten und zu erfüllen, verlieren ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche dabei aber aus den Augen oder trauen sich nicht, diese direkt auszusprechen und einzufordern. Stattdessen versuchen sie den Partner indirekt durch manipulatives Verhalten dazu zu bringen, ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu erfüllen.

-Sie ignorieren ihre eigenen Grenzen und verleugnen ihr eigenes Naturell, nur um vom Partner positive Rückmeldungen zu bekommen.

-Sie sind oft sehr eifersüchtig und können es kaum ertragen, dass der geliebte Mensch ein von ihnen abgegrenztes, eigenständiges Wesen ist, das sie nicht kontrollieren können.

All dies führt jedoch früher oder später unvermeidlich zu leidvollen Paarkonflikten.

Differenzierung und die Kunst, das seelische Gleichgewicht zu wahren

Als bestes Heilmittel gegen all diese Probleme empfiehlt der US-amerikanische Psychologe und Paartherapeut David Schnarch, sowohl die Differenzierung der eigenen Persönlichkeit voranzutreiben und hierfür die Fähigkeitzu erwerben, in emotionalen Situationen das seelische Gleichgewicht zu wahren.

Der Differenzierungsgrad beschreibt nämlich genau das Ausmaß der Fähigkeit eines Menschen, während der Interaktion in wichtigen Beziehungen sein emotionales Gleichgewicht zu erhalten. Ein hoher Grad an Differenzierung ist somit das exakte Gegenteil von emotionaler Verschmelzung. Wer ein hohes Maß an Differenzierung erreicht hat, kann im engen emotionalen und/oder körperlichen Kontakt zu anderen ein stabiles Selbstgefühl wahren, und zwar auch dann noch, wenn diese anderen ihm immer wichtiger werden. Emotionale Verschmelzung ist somit Verbundenheit ohne seelische Eigenständigkeit. Differenzierung ist Verbundenheit mit seelischer Eigenständigkeit.

David Schnarch fand heraus, dass das seelische Gleichgewicht von 4 Faktoren abhängt, die er als die 4 Aspekte der Balance bezeichnete. Je höher diese in einer Person ausgeprägt sind, desto höher ist dabei auch sein Grad der Differenzierung. Betrachten wir deshalb zuerst einmal die 4 Aspekte der Balance.

Die 4 Aspekte der Balance

  1. Man ist sich darüber im Klaren, wer man ist, was man will und welche Ziele man hat. Dieses Wissen ist notwendig, damit man in einer Beziehung bei sich selbst bleiben kann – insbesondere, wenn einen der Partner dazu drängt, sich seinen Vorstellungen anzupassen.
  2. Man besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen.
  3. Man besitzt die Fähigkeit, maßvoll zu reagieren und engagiert zu bleiben, wenn der Partner in Angst verfällt oder aufgebracht ist (anstatt sich zu distanzieren und aus dem Kontakt zu gehen).
  4. Man besitzt die Fähigkeit und Bereitschaft, Unbehagen um des Wachstums willen zu ertragen, sowie die Fähigkeit, die eigenen Bemühungen zu verstärken und sich mit Problemen auseinanderzusetzen.

Im letzten Artikel habe ich bereits eine Übung beschrieben, mit der du den 1. Aspekt der Balance stärken kannst.  Für die Aspekte 2, 3 und 4 gibt es meiner Meinung nach nichts Besseres, als das Wissen um Methoden, mit denen man sich erfolgreich und schnell selbst beruhigen kann. Und hierfür kenne ich nichts Besseres als PEAT, Aspectics und all die anderen Psychointegrationsmethoden, die von Zivorad Slavinski und seinen Schülern entwickelt wurden.

Die Psychointegrationsmethoden sind leicht handhabbare Instrumente, mit denen wir unsere inneren Reaktionen auf das Verhalten anderer besser verstehen und ihnen nachhaltig den Stachel ziehen können.  

Zum Erwerb der Aspekte 3 und 4 der Balance bedarf es zusätzlich einiger Entscheidungen, mit denen wir unsere Bereitschaft und unser Einverständnis stärken, trotz unterschiedlichster Probleme in einer Beziehung engagiert zu bleiben und Unbehagen zu ertragen. Diese Entscheidungen aktivieren gleichzeitig innere Einwände, die wir dann ebenfalls mit PEAT etc. bearbeiten können. Auf diese Weise können wir Beziehungsprobleme sehr gut als Entwicklungsimpulse nutzen.

Wenn David Schnarch mit seiner Behauptung recht haben sollte, dass unser Differenzierungsgrad davon abhängt, wie stark die 4 Aspekte der Balance in uns ausgeprägt sind, dann sind PEAT und Konsorten demnach absolut Gold wert. Sie sind dann sozusagen Schlüsselfähigkeiten für reife und erfolgreiche Beziehungen und Persönlichkeitsentwicklung.

Schauen wir uns aber mal an, welche Nachteile ein niedriger Differenzierungsgrad hat und welche Vorteile eine höhere Differenzierung.

Merkmale eines niedrigen Differenzierungsgrades

Wenig differenzierte Menschen haben Mühe, ihre Ängste zu regulieren. So nutzen sie dafür ihre Beziehungen, da emotionale Verschmelzung Ängste vorübergehend abmildern und das Selbstgefühl stärken kann. Aus diesem Grund verschmelzen Undifferenzierte bei Angst sogar noch stärker mit ihrem Partner, so dass sie immer abhängiger von der Beziehung werden.

Dies bringt ihnen kurzfristige zwar Beruhigung, wird für sie auf der anderen Seite aber auch zunehmend bedrohlich, da sie vom Partner nicht abhängig sein wollen. So aktivieren sich in ihnen mit der Zeit alle möglichen Schutz- und Abwehrmechanismen gegenüber ihrem Partner, mit dem Ziel, mehr körperliche und emotionale Distanz zu diesem herzustellen. Dies tun sie unterbewusst oder bewusst, um dem großen Einfluss, den der Partner auf sie zu haben scheint, etwas entgegensetzen. Nur so können sie verhindern, vom Partner verschlungen zu werden und sich selbst völlig aufzugeben.

Wenn diese Abwehrmechanismen nicht ausreichen und sie somit gefühlt in der Falle sitzen, nehmen sie oft unerwartet Reißaus, eine Möglichkeit, die sie sich als Hintertürchen stets offenhalten.

Ein niedriger Differenzierungsgrades hat aber noch weitere Symptome:

Je geringer der Grad der Differenziertheit, desto eher neigt man dazu, sich auf Abhängigkeitsbeziehungen einzulassen, in denen man ständig im Konflikt steht, ob man nun mit dem Gegenüber verschmelzen oder die Flucht ergreifen soll.

Je niedriger der Differenzierungsgrad, desto leichter ist man auch aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dies gilt insbesondere, wenn es einem in der Beziehung zu eng wird, wenn man glaubt, dass der Partner zu viel von einem fordert, aber auch wenn man sich auf Abstand gehalten fühlt.

Menschen, die sich selbst nicht gut regulieren können, versuchen immer, die Menschen in ihrer Umgebung zu kontrollieren.

Menschen mit geringer Differenzierung wollen nicht gerne auf irgendetwas verzichten und fühlen sich zudem dazu berechtigt, ihren Partnern die Wahlmöglichkeiten zu stehlen.  (z.B. „Wenn du mich wirklich lieben würdest, dann würdest du…“)

Wenig differenzierte Menschen wollen nicht begehren, sondern begehrt werden.

Weitere Charakteristika niedriger Differenzierung sind Angriffslust, Unbeständigkeit, Destruktivität und Egoismus.

Merkmale eines hohen Differenzierungsgrades

Je besser jemand sein Bedürfnis nach Individualität und sein Bedürfnis nach dem Miteinander in Einklang bringen kann, desto differenzierter ist er.

Je differenzierter jemand ist, desto besser kann er den eigenen Kurs selbst dann halten, wenn Partner, Freunde und Familienmitglieder Druck auf ihn ausüben, damit er einlenkt und mit ihnen konform geht.

Ein weiteres Merkmal für einen hohen Differenzierungsgrad ist es, wenn man angesichts heftiger Reaktionen des Partners selbst Ruhe bewahren kann.

Differenzierung drückt sich auch darin aus, dass das eigene Selbstgefühl nicht zusammenbricht, wenn der eigene Partner nicht da ist oder man nicht in einer Liebesbeziehung lebt (man zerbricht nicht am allein sein).

Ein differenzierter Mensch hat starke emotionale Bindungen. Er muss nicht räumliche Distanz wahren, die Häufigkeit von Kontakten gering halten oder sich von seinem Beruf aufzehren lassen, um sich seiner Identität zu versichern oder gegen emotionale Verstrickung zu wehren.

Je höher die Differenzierung, desto tiefer sein Verlangen, seine Fähigkeit zu Intimität, liebevoller Sexualität und Liebe.

Differenzierte Menschen können mit anderen einig sein, ohne das Gefühl zu haben, sich zu verlieren. Sie können mit Menschen, die anders denken als sie selbst verbunden bleiben und dennoch genau wissen, wer sie sind.

Differenzierung ist bei alle dem nicht gleich Individualismus, da Individualisten enge Beziehungen scheuen und differenzierte Menschen nicht auf Autonomie pochen, sondern die eigenen und die Bedürfnisse ihres Partners immer mit berücksichtigen.

Differenziertheit fördert zudem Selbstbestimmtheit und nicht Egoismus. Sie ermöglicht uns, sowohl in der eigenen Entwicklung voranzuschreiten als auch das Glück und Wohlergehen des Partners im Blick zu halten.

Der Differenzierungsprozess kommt voran, indem wir innerhalb einer engen emotionalen Beziehung an uns selbst festhalten. Dies gelingt leichter, wenn die eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen auf einem soliden Fundament ruhen. Dies spricht deutlich für ein werteorientiertes Leben.

Quelle: David Schnarch: “Intimität und Verlangen”