Die Entwicklung vom reifen Ego zum integrierten Selbst bzw. Zentaur

Im letzten Blogbeitrag habe den Zustand des Ich-Erlebens beschrieben, wie er für die meisten Menschen auf der Welt typisch ist: ein „Ich“ auf der Persona-Schatten-Ebene.

Das „Ich“, das wir auf dieser Ebene vorfinden, ist mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften identifiziert und verkündet nun lautstark: „Seht her, das bin ich!“ Gleichzeitig wehrt es sich gegen jeglichen Verdacht, es könnte irgendwelche Persönlichkeitsanteile haben, die der eigenen Selbstdarstellung widersprechen.

Wie wir gesehen haben, verdrängen wir die Möglichkeit, die von uns abgewehrten Eigenschaften auch nur latent zu besitzen. Dafür sehen wir sie umso deutlicher in der Außenwelt und empören uns dort über sie. Letztlich leben wir dadurch aber mit einem illusionären Selbstbild, mit dem wir uns und der Welt etwas vormachen.

Die Maske ablegen

Wenn wir zu einem vollständigeren und korrekteren Selbstbild gelangen wollen, müssen wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem wir die Mythen, die wir über uns verbreiten, infrage stellen, unsere Projektionen zurücknehmen und die abgespaltenen „Schatten“-Anteile in unsere Persönlichkeit integrieren.

Für die praktische Umsetzung dieser Integrationsarbeit gibt es viele Möglichkeiten. Eine davon habe ich im letzten blogpost beschrieben. (link zu Die Entwicklung von der Persona zum reifen Ego) Mein Favorit ist jedoch eine besondere Anwendungsform des DP-4 Prozesses von Zivorad Slavinski.

Durch die schrittweise Integration unseres Schattens gelangen wir schließlich allmählich auf die Stufe des reifen Egos oder Ichs. Einige der Folgen dieses Entwicklungsschrittes sind,

-dass wir ausgeglichener werden,

-dass wir weniger leicht provoziert werden können,

-dass wir weniger Angst davor haben, uns anderen gegenüber zu öffnen und unsere Schwächen zu zeigen,

-dass wir mehr Verständnis und Mitgefühl mit anderen Menschen entwickeln.

Dies ist aber noch lange nicht das Ende unserer Entwicklungsmöglichkeiten.

Vom Leib abgespalten

Denn selbst wenn du deinen Schatten hinreichend integriert hast, fehlt noch etwas. So wirst du unweigerlich bemerken, dass es dir irgendwie an Lebenslust mangelt. Nicht das du das vorher noch nicht bemerkt hättest. Doch auf der Stufe des reifen Egos rückt diese Wahrnehmung nun deutlicher in dein Blickfeld. So magst du dich geistig vielleicht klar und wach erleben, aber das Leben selbst fühlt sich eher schal und blass an.

Dies ist typisch, da die meisten von uns bei dem Versuch, die Persona gegenüber dem eigenen Schatten abzuschotten, irgendwann im Leben den Kontakt zum eigenen Körper bzw. zur Leiblichkeit verloren haben. Dadurch wurde der freie Energiefluss zwischen Körper und Psyche blockiert und die kindliche Lebensfreude sowie das Lebendigkeitsgefühl der Kindheit gingen verloren.

So fühlen wir uns trotz der Integration unseres Schattens noch immer so, als wären wir ein denkendes Wesen, das irgendwie in einem Kopf gefangen ist, der seinerseits oben auf einem Körper sitzt. Wir spüren diesen Körper zwar, sind mit ihm aber nicht mehr in einem vitalen und lebendigen Austausch verbunden. Das daraus resultierende Erleben ist völlig anders als in unserer frühen Kindheit. Wir leben nur noch mit gedrosselter Energie und Lebenskraft.

Dies ist nicht zuletzt einer der Gründe dafür, dass so viele Menschen auf Alkohol und andere Drogen zurückgreifen. Wir wollen (uns) wenigstens für einige Minuten bis Stunden mal so richtig intensiv fühlen können.

Die gute Nachricht ist nun aber, dass dieses Manko durch einen weiteren Entwicklungsschritt behoben werden kann. Das Ziel dieses Entwicklungsschrittes ist dann eine Erweiterung des Selbsterlebens hin zu einem integrierten Körper-Geist-Wesen, dessen mythologisches Bild der Zentaur ist.

Geist und Körper integrieren

Beim Zentauren sitzt ein menschlicher Oberkörper auf dem Körper eines Pferdes. Dadurch verfügt der Zentaur gleichzeitig über die Eleganz und die Kräfte von Mensch und Pferd. Er hat Zugriff auf alle höheren menschlichen Fähigkeiten inklusive der Fähigkeit zu denken und die Welt mit Händen zu erforschen. Gleichzeitig ist er aber auch mit einer ungeheuer kraftvollen und äußerst vitalen Leiblichkeit gesegnet.

Und wie können wir die Trennung von Geist und Körper heilen und uns zum Zentauren weiterentwickeln?

Die Antwort lautet, indem wir die ausschließliche Identifikation mit dem mentalen „Ich“ aufweichen und auf den Körper ausdehnen, so dass wir unseren Körper wieder vollständig von innen her in Besitz nehmen. 

Hierfür müssen wir wieder lernen, mit voller Aufmerksamkeit zu spüren und zu fühlen, wodurch schließlich ein konstantes Spürbewusstsein und eine differenzierte Gefühlsaufmerksamkeit entwickelt werden.

Für die Entwicklung eines verbesserten Spürbewusstseins gibt es hervorragende Möglichkeiten, wie z.B. Hatha Yoga, Tai-Chi, Qigong oder fernöstliche Kampfkünste, Achtsamkeitsübungen, Tiefenentspannung oder Body Scan. Genauso geeignet sind aber auch alle achtsam ausgeführte Sportarten, Saunagänge, kalte Duschen oder Eisbaden, achtsames Essen und Trinken, sinnliche Berührungen, Sex etc. Weitere Möglichkeiten sind das bewusste Erspüren des eigenen Energiekörpers, wie Eckhart Tolle es propagiert. Dies geht besonders leicht mit der Wim Hof Atmung, nach deren Anwendung man sich fühlt, als würde Strom durch den eigenen Körper fließen. (link zu Die “Wim Hof Atmung” für mehr Präsenz und bessere Gesundheit)

Für die Entwicklung einer differenzierten Gefühlsaufmerksamkeit müssen wir nur wieder lernen, den Blick auf unsere Befindlichkeiten, Stimmungen, inneren Zustände und Emotionen zu richten und dabei wenigstens für kurze Zeit unseren Widerstand dagegen loszulassen. Hierfür sind die Psychointegrationsmethoden wie PEAT hervorragend geeignet.

Wenn wir uns auf diese Weise allmählich zum Zentauren weiterentwickeln, gewinnen wir unsere kindliche Genussfähigkeit und Lebensfreude zurück. Auf der Ebene des Leibes fühlen wir uns schließlich erneut von Energie durchflutet und machen die Erfahrung, dass die Lebensvorgänge selbst Wonne erzeugen. Wir sind auf ungeahnte Weise wieder lebendig geworden.

Die Stufe des Zentauren ist erreicht, wir unseren Leib, unsere Emotionen und unsere Psyche einschließlich unserer Teil-Persönlichkeiten und unserem Schatten gleichberechtigt integriert haben und alle in einem lebendigen Austausch miteinander interagieren.

Dies ist das Ziel aller Psychotherapien und gilt in der naturwissenschaftlichen Ideologie als Endpunkt der menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Aus der Perspektive des Zentauren ist das Erleben wieder tief und reichhaltig .

Zum Abschluss dieses Artikels möchte ich dir nun noch eine Übung beschreiben, mit der du deine Entwicklung zum Zentaur beschleunigen kannst.

Übung zur Schärfung des Spürbewusstseins:

Lege dich entspannt auf den Rücken. Die Beine sind gestreckt, die Füße liegen locker und nach außen zeigend auf der Unterlage. Die Arme liegen mit den Handflächen nach oben ausgestreckt neben dem Körper.

Beginne eine Tiefenentspannung, wobei du tief einatmest und in deinen Leib hineinspürst, wo du etwas spürst und wo sich dein Körper taub anfühlt, verspannt ist, schmerzt oder du vielleicht auch gar nichts spüren kannst. Scanne deinen Körper auf diese Weise und löse alle Spannungen.

Atme danach tief ein, so als würdest du deinen Leib wie einen Ballon aufpusten und stelle dir vor, wie dabei Lust und Energie in dich einströmen. Beim Ausatmen spüre, wie diese lustvolle Energie in deine Extremitäten und Fasern deines Körpers ausstrahlt. Lade deinen Körper auf diese Weise mit Energie und Lebendigkeit auf.

Wiederhole diese Art der Atmung und des Spürens. Stelle dir so lebendig wie möglich dabei vor, wie Lebenslust und Energie beim Einatmen in dich einströmen und beim Ausatmen durch deinen Körper, Geist und deine Seele wieder hinaus ins Universum strömen, wobei sich all deine quälenden Gefühle, Krankheiten, Leiden, Schmerzen, Anspannungen und Gedanken in der Unendlichkeit auflösen.

Quellen:

Ken Wilber: „Das Spektrum des Bewusstseins“