Bindungsstile als Matrix für unser Verhalten in engen Beziehungen

Im  Blogbeitrag “Stufen der moralischen Entwicklung und wie sich diese in Paarbeziehungen zeigen” habe ich darüber geschrieben, wie sich Menschen je nach Stand ihrer moralischen Entwicklung in Beziehungen verhalten.  In diesem Artikel möchte ich dir nun eine Idee davon vermitteln, welchen Einfluss die unterschiedlichen Bindungsmuster auf die Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter haben. Diese Muster bzw. die verschiedenen Arten, wie wir uns seelisch an enge Bezugspersonen binden, werden früh gelernt und sind bereits im Alter von 12 bis 18 Monaten vorgeprägt.

Sie entstehen in der Interaktion zwischen dem Baby bzw. Kleinkind und seinen wichtigsten Bezugspersonen (meist der Mutter). Wichtige Einflüsse auf die Bindungsqualität sind die Feinfühligkeit der Bindungspersonen, die Synchronizität, Reziprozität,  Feinabstimmung des emotionalen Austauschs in der Mutter-Kind-Interaktion, Veranlagung des Babys, traumatische Erlebnisse in den ersten Lebensjahren wie z.B. Scheidung, Umzug, Krankheit oder Tod eines Elternteils, sowie die Trennungsangst der Mutter.

Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth und ihre Kollegen entwickelten 1969 mit dem sogenannten Fremde Situations-Test ein Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster.

Versuchsablauf des Fremde Situations-Tests

Die Mutter geht mit ihrem Kleinkind in das fremde Spielzimmer und setzt das Kind beim Spielzeug ab. Nach ca. 30 Sekunden soll sich die Mutter auf einen Stuhl setzen und kurz in einer Zeitschrift lesen, während das Kind mit den Spielsachen spielen kann. Nach spätestens 2 Minuten soll die Mutter ihr Kind zum Spielen animieren, wenn es bis dahin noch nicht spielt.

Eine fremde Frau betritt den Raum und spricht zunächst nicht mit der Mutter. Erst nach einer kurzen Pause spricht sie die Mutter an und die beiden unterhalten sich für eine Minute. Danach versucht die fremde Frau, mit dem Kind in Kontakt zu kommen und sie bietet sich diesem als Spielpartnerin an.

Auf ein Klopfzeichen hin verlässt die Mutter den Raum, verabschiedet sich mit wenigen Worten von ihrem Kind und lässt ihre Handtasche zurück. Nun wird beobachtet, wie das Kind auf die Trennung von der Mutter reagiert. Sollte das Kind weinen, versucht die fremde Frau, das Kind zu trösten bzw. es durch Spielen abzulenken. Die gelingt natürlich unterschiedlich gut.

Die Mutter spricht derweil vor der Tür und kommt nach einer dreiminütigen Trennungszeit wieder in das Spielzimmer. Die Mutter begrüßt ihr Kind, nimmt es kurz auf den Arm und tröstet es bei Bedarf. Sobald sich das Kind beruhigt hat, überlässt sie es wieder seinem Spiel. Während der Begrüßung hat die fremde Frau den Raum verlassen.

Nach 3 Minuten erfolgt nun eine zweite Trennung von der Mutter, die erneut den Raum verlässt und ihre Handtasche wie zuvor zurücklässt. Das Kind ist jetzt für 3 Minuten ganz allein und seine Reaktionen werden beobachtet.

Anstatt der Mutter kommt nun die fremde Frau in den Raum und passt ihr Verhalten dem des Kleinkindes an (z. B. trösten oder mitspielen).

Je nach Reaktion des Kindes kehrt die Mutter nun ebenfalls wieder in den Raum zurück, wobei sie noch kurz in der offenen Tür stehen bleibt. Dann nimmt sie ihr Kind kurz auf den Arm und tröstet es bei Bedarf. Die fremde Frau verlässt den Raum. Nun wird dem Kind einige Minuten Zeit gelassen, wieder zum Spiel zurückzukehren.

Der Vorgang wird mit einer Videokamera aufgezeichnet und anschließend bewertet. Typischerweise findet man bei den einjährigen Kindern dabei vier Bindungstypen:

(1) Sicher gebundene Kinder, (2) unsicher-vermeidend gebundene Kinder, (3) unsicher-ambivalent gebundene Kinder und (4) desorganisiert gebundene Kinder.

 

(1) Das Verhalten von sicher gebundenen Menschen:

Im Fremde Situations-Test:

Sicher gebundene Kinder zeigen während der 1. Trennung von der Mutter Anzeichen, dass sie ihre Bezugsperson vermissen. Auf die zweite Trennung von der Mutter reagieren sie typischerweise mit Stress und Tränen. Wenn die Mutter ins Spielzimmer zurückkehrt, begrüßen sie ihre Bezugsperson aktiv und wollen von ihr meist gehalten werden. Nach kurzem Kontakt mit der Mutter entspannen sie sich aber schnell wieder und wenden sich erneut dem Spiel zu.

Als Erwachsene:

Sicher gebundene Menschen haben ein positives und Sicherheit vermittelndes inneres Bild von Partnerschaft. Sie schätzen enge Beziehungen als verlässliche Quelle der Geborgenheit und als sichere Lebensbasis. Grundsätzlich vertrauen sie auf die Zuverlässigkeit ihres Partners und halten sich selbst für beziehungsfähig. Sie drücken ihre Zuneigung offen aus und können die positiven Aspekte ihrer Beziehung genießen, ohne die negativen zu leugnen.

Einflüsse, die eine sichere Bindung begünstigen:

-die Eltern reagieren feinfühlig auf die Signale des Kindes (sind liebevoll und fördern ihr Kind in seiner zunehmenden Selbständigkeit und wachsenden Kommunikationsfähigkeit)

-das Kind kann sich auf die Hilfe, Unterstützung und das Mitgefühl seiner Bindungsperson als sicherer Basis verlassen – dadurch hat es auch mehr Mut seine Umwelt zu erkunden

-die Eltern kommunizieren offen und so, dass ihre Aussagen und ihre Körpersprache übereinstimmen

 

(2) Das Verhalten von unsicher-vermeidend gebundenen Menschen:

Im Fremde Situations-Test:

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder weinen bei der Trennung von der Mutter nicht. Stattdessen bleiben sie die ganze Zeit über mit ihrer Umgebung und dem Spielzeug beschäftigt. Wenn die Mutter in den Raum zurückkehrt, ignorieren sie sie oder bewegen sich von ihr weg. Werden sie von der Mutter auf den Arm genommen, drehen sie sich von ihr weg oder wenden den Blick von ihr ab. Sie drücken keinen Stress aus.

Als Erwachsene:

Unsicher-vermeidend gebundene Menschen haben meist ein inneres Bild von Partnerschaft, in dem der Partner weder als Quelle der Geborgenheit, noch als zuverlässig verfügbar wahrgenommen wird. In ihrer Vorstellung bietet der Partner zwar möglicherweise sachliche, aber keine emotionale Unterstützung. Sie wirken in der Regel distanziert und abweisend. Grundsätzlich vermeiden sie große Emotionen und gefühlsgeladene Themen. Sie kommunizieren eher sparsam und teilen sich nur verhalten mit. In Stresssituationen zeigen sie ihre Gefühle nicht nach außen, können sie nicht wahrnehmen und wollen auch nicht darüber sprechen.

Sie neigen dazu, ihre eigenen Eltern und ihre eigene Kindheit zu idealisieren, können aber selten Beispiele aus eigener Erfahrung dafür benennen. Stattdessen können sie sich meist nur schlecht an ihre Kindheit erinnern.

Einflüsse, die eine unsicher-vermeidende Bindung begünstigen:

-die Eltern lehnen das Nähe-Bedürfnis ihres Kindes ab, machen es lächerlich oder ignorieren es absichtlich, wenn es sich trostsuchend an sie wendet.

-typisch bei ungewollten, abgewiesenen, seelisch im Stich gelassenen oder körperlich allein gelassenen Kindern

-die primäre Bezugsperson weigert sich, über ihre Gefühle, ihren Ärger und ihre schwachen Emotionen zu sprechen

 

(3) Das Verhalten von unsicher-ambivalent gebundenen Menschen:

Im Fremde Situations-Test:

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder sind im Fremde Situations-Test ständig mit ihrer Bindungsperson beschäftigt. Nach der ersten Trennung behalten sie ihre Mutter die meiste Zeit über im Auge und weinen, statt wieder zu spielen. Manchmal zeigen sie Wut, oft wechseln sie zwischen Nähe und Distanz zur Mutter hin und her. Sie können sich nach der Wiederbegegnung mit der Mutter nicht mehr entspannen.

Als Erwachsene:

Unsicher-ambivalent gebundene Menschen haben ein widersprüchliches inneres Bild von Partnerschaft. Sie neigen dazu, ständig zwischen einer positiven und einer negativen Bewertung von Beziehungen hin und her zu wechseln, ohne zu einem einheitlichen Gesamteindruck gelangen zu können. Emotionale Themen werden immer wieder durchdacht und besprochen. Im Zentrum ihrer Beziehungen steht meist die Sehnsucht nach größerer Nähe bei gleichzeitiger Angst, dass die eigenen Bedürfnisse vom Partner nicht erfüllt werden. Sie neigen dazu, Erlebnisse aus ihren Beziehungen in vielen Einzelheiten zu beschreiben, ohne dabei Widersprüche innerhalb ihrer Berichterstattung zu bemerken. Sie geraten leicht in Abhängigkeitsbeziehungen zu ihren Partnern bzw. bleiben in Abhängigkeitsbeziehungen zu ihren Bindungspersonen aus der Herkunftsfamilie.

Einflüsse, die eine unsicher-ambivalente Bindung begünstigen:

-die engste Bezugsperson (meist die Mutter) ist unfähig, auf die Signale des Säuglings feinfühlig zu reagieren, stellt sich im Umgang mit dem Baby ungeschickt an und verhält sich uneinheitlich bzw. gefühllos

-die Mutter vertauscht in selbstbezogener Weise die Rolle mit ihrem Kind und erwartet vom Kind fürsorgliches Verhalten für sich selbst (das Kind muss die Mutter trösten und stabilisieren)

-die Bezugspersonen kommunizieren inkohärent (Worte und Körpersprache stimmen nicht überein)

 

(4) Das Verhalten von desorganisiert-desorientiert gebundenen Menschen:

Im Fremde Situations-Test:

Desorganisiert-desorientiert gebundene Kinder reagieren auffällig und ungewöhnlich anders als die vorigen drei Gruppen. So zeigen sie z.B. ziellose, verworrene oder widersprüchliche Verhaltensweisen (Hinlaufen zur Mutter, Stehenbleiben, Umkehren, Einfrieren der Bewegung, motorische Stereotypien etc.) und sie vermitteln den Eindruck, als würden sie sich vor ihrer Bezugsperson fürchten.

Als Erwachsene:

Desorganisiert-desorientiert gebundene Menschen leiden meist unter ungelösten traumatischen Erfahrungen und/oder Verlusten aus ihrer Kindheit. Wenn sie über ihre Beziehungen sprechen, finden sich auf der Ebene des Inhalts, des gedanklichen Ablaufs und in der Schilderung der Gefühle Brüche. Sie geraten leicht in missbräuchliche bzw. manipulative Beziehungen, in denen sie erneut Opfer oder aber auch Täter werden.

Einflüsse, die eine desorganisiert-desorientierte Bindung begünstigen:

-die Eltern bzw. engsten Bezugspersonen sind dem Kind gegenüber feindselig, misshandeln es, missbrauchen es oder sind sonst wie übergriffig ihm gegenüber

-die Eltern verhalten sich inkohärent (Worte und Körpersprache stimmen nicht überein) oder bedrohlich

 

Fazit:

Wir alle sind durch unsere Beziehungserfahrungen in der frühen Kindheit geprägt worden. Meist sogar stärker, als wir wahrhaben wollen.

Zu unserem Glück ist diese Prägung jedoch kein endgültiges Urteil. Denn wir können auch als Erwachsene noch Einfluss auf unsere Verhaltensmuster als auch unsere Reaktionen innerhalb unserer Beziehungen nehmen. Auch die Überzeugungen, die wir über Beziehungen, Partnerschaft, Liebe und uns selbst als Partner erworben haben, können wir noch positiv beeinflussen.

Diese Veränderungen sind vor allem durch positive neue Beziehungserfahrungen möglich, wie sie z.B. in stabilen, kontinuierlichen zwischenmenschlichen Beziehungen mit einem sicher gebundenen Gegenüber erlebt werden können.

Aber auch wenn du noch keine positive Beziehung zu einer sicher gebundenen Person erlebt hast, kannst du deine Beziehungsfähigkeit verbessern.

Zum Beispiel, indem du deine eigenen toxischen Verhaltensmuster und Überzeugungen bezüglich Partnerschaft aufspürst und bearbeitest. Indem du Strategien erlernst, die dir dabei helfen, in Konfliktsituationen ruhig zu bleiben und nicht über zu reagieren. Und indem du Klarheit darüber erwirbst, wer du bist, was du willst und welche Ziele du hast, damit du bei dir selbst bleiben kannst, wenn dich dein Partner dazu drängt, sich seinen Vorstellungen anzupassen.

Wenn du dir hierbei Hilfe wünschst, biete ich dir gerne meine Unterstützung an.

 

 

Quellen:

Brisch, K.H. (1999) „Bindungsstörungen: von der Bindungstheorie zur Therapie“. Stuttgart: Klett-Cotta.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie